Hannes hatte mit seiner Frau Karin schon eine Woche auf dem Boot auf dem Chiemsee verbracht.
Diesen Samstag stoße ich dazu. Es ist etwas kühl aber trocken. Ganz untypisch für den sonst sehr flauen See ist für heute fabelhafter Wind angekündigt, und wir wollen die Gelegenheit nutzen, die sail la vie in allen erdenklichen Situationen sicher in den Griff zu bekommen.
Also fahren wir raus und erleben tatsächlich eine ganz ordentliche Brise mit recht konstanten 18 bis 22 Knoten.
Die sail la vie krängt so stark, dass drinnen das Geschirr aus den Schränken fällt. Karin ist unter Deck und kommt nicht hinterher, alles wieder sicher zu verstauen. Mich wundert, dass sie so ruhig bleibt. Mir selbst geht schon wieder mal so bisschen die Düse bei der starken Krängung. Aber ich versuche tapfer, Hannes und seinen Manöverkünsten zu vertrauen.
Hannes testet, wie schnell sich die sail la vie wieder gerade stellt, wenn er bei starker Krängung in den Wind lenkt. Das funktioniert wirklich toll. Immer wieder und zuverlässig.
Dann rollen wir die Genua halb ein und wollen das Verhalten mit dieser gerefften Konfiguration austesten.
Leider funktioniert das gar nicht so toll, denn der Wind zerrt mit unglaublicher Kraft an der halben Genua und wickelt sie oben weiter aus, während unten die festgeklemmte Rollleine ein Ausrollen verhindert. Jetzt können wir sie nicht mehr ordentlich einrollen. Und der Wind zerrt weiter oben an dem ausgebauchten Teil, schlägt ihn wild hin und her. Hannes stellt die sail la vie in den Wind, aber auch das hilft nichts mehr: Die Genua ist oben weiter ausgerollt als unten, bildet auf ganzer Höhe mehrere Bäuche und der starke Wind hat viele Angriffspunkte.
Nicht mehr unter Kontrolle
Und dann passiert es: Die Rollleine löst sich aus der schon etwas altersschwachen Servo Cleat, gibt die Genuarolle frei. Die Genuaschot hält die untere Ecke der Genua fest, während der Wind mit dem gesamten oberen Teil der Genua eine wilde Party feiert. Plötzlich sehen wir Fetzen aus der Genua flattern. Sie ist am Achterliek ausgerissen und breite Stücke wirbeln lose herum, reissen ab, landen im Wasser.
Wir starten einen letzten Versuch, die Genua einzurollen. Das funktioniert nur mäßig. Unten liegt sie an, aber ab der Mitte hängt sie lose, Bäuche fangen den Wind und Fetzen flattern.
Ich kann die herumwirbelnde Genua kaum gegen die Kraft des Windes halten, und versuche, mit Leinen die eingerollte Genua von unten her zu umwickeln und so zu sichern. Ich habe dafür nur eine Hand frei, und es geht eine unserer besten Anlegeleinen über Bord und versinkt nach einigen Sekunden.
Ich schaffe es, mit Zeisingen zumindest den unteren Teil der Genua am Roll festzuzurren. Den weiter oben liegenden Teil versuche ich, mit den Händen unter Kontrolle zu bringen. Mir brennen die Muskeln in meinen Unterarmen, ich habe kaum noch Kraft in meinen Händen, so sehr zerrt der Wind am Segel.
Aber ich bleibe tapfer, umklammere die Fetzen der Genua fest mit beiden Armen und kämpfe gegen die immense Kraft des Windes, während Hannes mit Vollgas zurück zum Hafen motort. Ja, wir sehen das beide als Notsituation, in der die Nutzung des Benzinmotors gestattet ist.
Im Hafen angekommen und angelegt wollen wir die Genua abriggen. Der Wind bläst böig immer noch ordentlich, und da die sail la vie alles andere als in den Wind steht, gestaltet sich das gar nicht so einfach, wie Karin dokumentiert.
Trümmerhaufen
Irgendwann ist die Genua geborgen, und wir breiten Sie in einer windstillen Ecke des Hafengeländes aus, um den Schaden zu begutachten.
Uns dämmert, was die Ursache für die eigenartigen Rissmuster sein könnte: Der Vorbesitzer hatte das Boot jeweils den ganzen Sommer am Chiemsee liegen. Mit aufgerollter Genua ohne Schutzsack. Sonne, Wind und Wetter hatten also immer leichten Zugriff auf die äusserste Schicht der eingerollten Genua. Und das Tuch marodierte so in diesem Bereich besonders stark, war spröde und brüchig. So hatte der Wind letztendlich ein leichtes Spiel, sich mundgerechte Stückchen aus dem Textil zu reissen.
Die Odyssee
Wir hinterlegen die Genua beim Segelmacher in Prien.
Am Montag telefoniere ich mit ihm, und er erklärt mir, dass das Tuch so alt, marode und spröde ist, dass eine Reparatur zwar theoretisch möglich wäre, er uns aber nur eine Garantie gibt, bis das Segel seine Werkstatt verlässt. Mit anderen Worten, er bietet uns eine individuell für uns gefertigte neue Genua an. Für einen Preis, der sich zwar vergleichsweise günstig anhört, aber trotzdem weit außerhalb unseres Budgets liegt.
Hannes macht einen anderen Segelmacher im Großraum München ausfindig, der nach einem ersten Gespräch bereit ist, die Reparatur zu übernehmen. Und Hannes liefert die Reste unserer Genua dort ab. Eine Woche soll es dauern, sagt der Segelmacher, aber nicht allzu teuer werden.
Welcome back, Genua!
Es dauert zwei Wochen. Und wird teuerer. Aber immer noch deutlich günstiger als eine neue Genua.
Wir sind begeistert: Der Segelmacher hat wirklich perfekte Arbeit geleistet. Auf ganzer Höhe der Genua hat er einen etwa 30 cm breiten Bereich am Achterliek ersetzt. Einwandfreie Handwerkskunst.
Wird sie stabil sein, wird die Reparatur halten? „Ja“, meint der Segelmacher, „15 Knoten wird sie locker vertragen. Darüber fährt man ja ohnehin keine Genua.“
Ach!?